Beschreibung
Der zweite Roman mit der charismatischen zwölfjährigen Heldin Emma Graham aus "Das Hotel am See". La Porte, ein kleiner Gebirgsort am Spirit Lake: Kurz nachdem Ben Queen aus dem Gefängnis entlassen wird, wo er die letzten zwanzig Jahre wegen Mordes an seiner Frau Rose verbracht hat, wird seine Tochter Fern erschossen. Die Polizei geht davon aus, dass Ben auch Fern auf seinem Gewissen hat. Doch die aufgeweckte zwölfjährige Emma, die im heruntergekommenen Hotel Paradise lebt, glaubt nicht an seine Schuld - in keinem der beiden Mordfälle. Sie tut alles, um die Unschuld Bens zu beweisen. Doch das gefällt dem wahren Schuldigen ganz und gar nicht.
Leseprobe
Ein zerbeulter Becher Hier sitze ich also, wo Sie mich vor kaum einer Woche zurückgelassen haben. Jeden Tag und fast jede Nacht bin ich hier auf dem niedrigen Steinmäuerchen bei der Quelle. Ich sitze neben der kleinen Nische, wo das Quellwasser durch ein Rohr aus dem Felsen läuft. Ein Blechbecher, vom jahrelangen Gebrauch ganz zerbeult, steht unter dem Rohr und fängt das Wasser auf, damit man es trinken kann. Der Becher ist schon genauso lange da wie ich. Es ist, als wäre die kleine Felsspalte seine Behausung, aus der man ihn nehmen, trinken und ihn dann wieder hineinstellen kann. Erstaunlich, dass ihn in dieser ganzen Zeit, in all den Jahren niemand gestohlen hat. Wieso sollte jemand einen zerbeulten Becher stehlen? Weil es Dinge gibt, die alle Vernunft übersteigen - wie zum Beispiel das Mädchen, das aufgetaucht und wieder verschwunden ist. Oder die Gewissheit, dass Ben Queen niemanden umgebracht hat. Wie die »Duxmaschinen« meines Bruders oder eben auch die Rachsucht. Wahrscheinlich haben Sie das meiste, was passiert ist, schon vergessen, aber vielleicht erinnern Sie sich daran, dass Fern Queen drüben am Mirror Pond erschossen wurde. Der liegt an der White's Bridge Road. Sie erinnern sich vielleicht, denn Mord findet man ja immer wichtiger als alles andere (von Sex einmal abgesehen). Ich fragte meine Mutter, die schon seit eh und je im Hotel Paradise lebt, nach dem Becher, und sie meinte: »Was denn für ein Becher?« Es scheint also wenig Sinn zu haben, danach zu fragen. In der Nische, in der der Becher steht, fand ich die Colonel-Mustard-Figur, die Unbekannte aus dem Mr.-Ree-Spiel genommen und dort deponiert hatten (ich glaube allerdings, es war das Mädchen), um mir etwas mitzuteilen, vielleicht um mir zu sagen: Du bist auf der richtigen Fährte, geh weiter. Oder einfach: Es gibt mich wirklich. Ich stelle mir vor, es war Letzteres, denn wenn ich jemandem sagen würde, es gäbe sie, würde der das Gegenteil behaupten: Nein, das tut sie nicht. Das hatte Ben Queen behauptet, doch der hatte einen bestimmten Grund dafür: Niemand, vor allem nicht die Polizei, sollte etwas von ihr wissen. Er versuchte sie zu beschützen. Also tat er so, als gäbe es sie nicht, und ich spielte das Spiel mit. Wir waren uns beide darüber im Klaren, dass nur wir über sie Bescheid wussten. Wenn man ein großes Geheimnis bewahren will - wenn man es sich nicht kaputtmachen lassen will -, dann muss man verhindern, dass die falschen Leute davon Wind bekommen. Dann geht man eben etwas umständlicher vor. Man fragt die falschen Leute, solche zum Beispiel, die keine Ahnung haben, und obwohl man am Ende auf diese Weise auch zu einer Antwort kommt, dauert es viel länger, bis man darauf kommt. Wieso eigentlich? Wieso sollte ich versuchen, es auf diese umständliche Art zu lösen? Vielleicht würde mir die Antwort nicht dasselbe bedeuten, wenn ich die Fragen nicht auf meine Art stellen könnte, und zwar den Leuten, denen ich sie stellen will. Oder vielleicht will ich im Grunde die Antwort gar nicht wissen. Oder vielleicht beides. Vierzig Jahre sind seit »der Tragödie« vergangen. So nennen es die Leute hier, auf diese ehrfürchtige, aufgeregte Art, so dass man meint, sie wünschten, es würde alles noch einmal passieren. Die meisten scheinen vergessen zu haben oder wussten womöglich gar nicht, dass es zwei Tragödien gab, vielleicht weil eine sich in Spirit Lake zutrug und die andere in Cold Flat Junction. Und wenn Sie den Mord an Fern Queen dazunehmen, sind es drei Tragödien. Cold Flat Junction ist ein Ort, bei dessen Anblick aus dem Zugfenster man denkt, Gott sei Dank wohne ich nicht hier, was für ein langweiliges Kaff, wie nichts sagend und öde. Es ist ja auch nichts sagend und öde und manchmal vielleicht sogar langweilig, aber ich finde, Sie machen einen Fehler, wenn Sie dran vorbeifahren. Sie sollten aussteigen und ein Weilchen dableiben, was ich übrigens getan habe. Der Ort hat etwas, was ich spüren kann, wenn ich auf einer Bank auf dem Bahnsteig sitze un