Beschreibung
Eine der größten literarischen Wiederentdeckungen der letzten Jahre Sommer 1940: Die deutsche Armee steht vor Paris. Voller Panik packen die Menschen ihre letzten Habseligkeiten zusammen und fliehen. Angesichts der existentiellen Bedrohung zeigen sie ihren wahren Charakter Der wiederentdeckte Roman Suite française von Irène Némirovsky wurde 2005 zur literarischen Sensation. Über 60 Jahre lag das Vermächtnis der französischen Starautorin der 30er Jahre unerkannt in einem Koffer - bis der Zufall dieses eindrucksvolle Sittengemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ans Licht brachte.
Autorenportrait
Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als "Suite française" veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
Leseprobe
STURM IM JUNI 1 Der Krieg Warm, dachten die Pariser. Frühlingsluft. Es war Nacht im Krieg, Alarm. Aber die Nacht vergeht, der Krieg ist weit. Alle, die nicht schliefen, die Kranken in ihrem Bett, die Mütter, deren Söhne an der Front waren, die liebenden Frauen mit ihren tränenwelken Augen hörten den ersten Atemzug der Sirene. Noch war es erst ein tiefes Einatmen gleich dem Seufzer, der einer beklommenen Brust entweicht. Einige Augenblicke würden vergehen, ehe der ganze Himmel sich mit Geheul füllte. Es kam aus der Ferne, aus der Weite des Horizonts, ohne Hast, hätte man meinen können! Die Schlafenden träumten vom Meer, das seine Wellen und seine Kiesel vor sich herschiebt, vom Sturm, der im März den Wald schüttelt, von einer Rinderherde, die schwerfällig rennt und den Boden mit ihren Hufen erschüttert, bis endlich der Schlaf zurückwich und der Mann, kaum die Augen öffnend, murmelte: 'Alarm?' Nervöser, flinker, waren die Frauen schon auf den Beinen. Einige legten sich wieder hin, nachdem sie Fenster und Läden geschlossen hatten. Tags zuvor, am Montag, dem 3.Juni, waren zum ersten Mal seit Beginn dieses Krieges in Paris Bomben gefallen; aber die Bevölkerung blieb ruhig. Dabei waren die Nachrichten schlecht. Man glaubte nicht daran. Ebensowenig hätte man der Ankündigung eines Sieges geglaubt. 'Davon verstehen wir nichts', sagten die Leute. Im Licht einer Taschenlampe zog man die Kinder an. Mit beiden Armen hoben die Mütter die schweren und warmen kleinen Körper hoch: 'Nicht doch, hab keine Angst, weine nicht.' Es war Alarm. Alle Lampen erloschen, aber unter diesem goldenen, durchsichtigen Junihimmel war jedes Haus, jede Straße zu sehen. Und die Seine schien alle verstreuten Lichter in sich zu vereinen und sie wie ein Facettenspiegel hundertfach zu reflektieren. Die unzureichend abgedunkelten Fenster, die im leichten Dunkel schimmernden Dächer, die Eisenbeschläge der Türen, von denen jede einzelne Wölbung schwach glänzte, einige Rotlichter, die wer weiß warum länger brannten als die anderen - die Seine zog sie an, fing sie ein und ließ sie in ihren Fluten tanzen. Von oben sah man sie sicher weiß wie ein Fluß aus Milch dahinfließen. Sie lenkte die feindlichen Flugzeuge, dachten einige. Andere behaupteten, das sei unmöglich. In Wirklichkeit wußte man nichts. 'Ich bleibe im Bett', murmelten schläfrige Stimmen, 'ich habe keine Angst.' - 'Trotzdem, einmal ist genug', antworteten die vernünftigen Leute. Durch die Glasscheiben, die in den neuen Wohnhäusern die Hintertreppen schützten, sah man ein, zwei, drei kleine Flammen hinabsteigen: Die Bewohner des sechsten Stocks flohen diese großen Höhen; ungeachtet der Vorschriften hatten sie ihre Taschenlampen angemacht. 'Ich will mir auf der Treppe lieber nicht den Hals brechen, kommst du, Emile?' Instinktiv senkte man die Stimme, als wäre der Raum voll feindlicher Blicke und Ohren. Man hörte nacheinander die Türen zuschlagen. In den stark bevölkerten Vierteln wimmelte es in den Metros, in den übelriechenden Schutzräumen immer von Menschen, während die Reichen sich damit begnügten, bei ihren Pförtnern zu bleiben, auf die Einschläge und die Explosionen horchend, die das Fallen der Bomben verkünden würden, aufmerksam, die Körper aufgerichtet wie unruhige Tiere in den Wäldern, wenn die Nacht der Jagd naht. Die Armen waren nicht furchtsamer als die Reichen; sie hingen nicht stärker am Leben, aber sie folgten dem Herdentrieb in größerem Maße als sie, sie brauchten einander, hatten das Bedürfnis, einander beizustehen, gemeinsam zu stöhnen oder zu lachen. Bald würde es Tag werden; ein silbergrüner Schimmer legte sich auf die Pflastersteine, auf die Brüstungen der Kaimauern, auf die Türme von Notre-Dame. Sandsäcke umschlossen die wichtigsten Gebäude bis zur halben Höhe, verhüllten die Tänzerinnen von Carpeaux auf der Fassade der Oper, erstickten den Schrei der Marseillaise auf dem Arc de Triomphe. Noch ziemlich weit entfernt dröhnten Kanonenschüsse, dann rückten sie näher, und jede Fen Leseprobe
Leseprobe