Beschreibung
In Lemberg geboren und in Gleiwitz aufgewachsen, verbringt Adam Zagajewski seine Jugend im Krakau der sechziger Jahre. Er erzählt vom Stöbern nach verbotenen Büchern im Antiquariat, vom verwahrlosten ehemaligen Judenviertel Kazimierz und von einem jungen Geistlichen namens Karol Woityla, der bei seiner Tante ein und aus ging. Wie beiläufig verdichten sich die Erinnerungen zum persönlichen Bildungsroman eines der wichtigsten polnischen Dichter der Gegenwart.
Autorenportrait
Adam Zagajewski, 1945 in Lemberg geboren und 2021 in Krakau gestorben, studierte Psychologie und Philosophie in Krakau. Er lehrte regelmäßig an der University of Chicago. Adam Zagajewski ist Autor zahlreicher Lyrik- und Essaybände sowie mehrerer Romane und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Eichendorff-Literaturpreis (2014), dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste (2015), dem Leopold Lucas-Preis (2016), dem Jean-Améry-Preis für Essayistik (2016), dem Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur (2017) und dem Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (2019). Seit 2015 war Adam Zagajewski Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei Hanser erschienen zuletzt Verteidigung der Leidenschaft (Essays, 2008), Unsichtbare Hand (Gedichte, 2012), Die kleine Ewigkeit der Kunst (Tagebuch ohne Datum, 2014), Asymmetrie (Gedichte, 2017) und Poesie für Anfänger (Essays, 2021).
Leseprobe
In meiner Kindheit verlor ich zwei Vaterländer: Ich verlor die Stadt, in der ich geboren war und in der vor mir zahlreiche Geschlechter meiner Familie gelebt haben, und mir wurde mit der Installierung des sowjetischen Herrschaftssystems der quasi natürliche Zugang zur allgemeinen offenkundigen Wahrheit genommen. Hinterher brauchte ich viele Jahre, um zur Hauptströmung des Lebens zurückzufinden, um schlichteste Gewißheiten zu erlangen, Gewißheiten, die nur Wahnsinnige und Betrüger in Zweifel ziehen.
Nach Krakau kam ich zum Studium; es war Herbst, wie immer, wenn ein neues Studienjahr anfängt. Ich kam zum Studium, ein löbliches pragmatisches Unterfangen, aber es ging mir auch um etwas anderes. Halb unbewußt verlangte es mich auch danach, meine Stadt wiederzufinden, jene Stadt, von der ich wußte, daß sie für immer verloren war. Aber wir suchen ja oft etwas, was nicht mehr da ist.
Vor mir liegt eine Abbildung vom Zentrum Krakaus; eine Luftaufnahme, vom Flugzeug oder vom Helikopter aus fotografiert. Ich entdeckte sie zufällig - sie dient als Umschlagfoto eines Städteführers für ausländische Touristen. Darauf die stilisierte Inschrift Cracows Historic Town Centre; die englische Inschrift spielt eine etwas destruktive Rolle, sie entfernt mich von meiner Stadt, will mich zum Touristen machen, widerspricht dem augenfälligen Faktum, daß ich etwas sehr Vertrautes vor Augen habe.
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Beim Betrachten der Luftaufnahme werde ich zum Piloten des Flugzeugs oder Helikopters; ich fliege über der Stadt. Ich setze mir Kopfhörer auf und habe statt eines Steuerknüppels meine alte Schreibmaschine vor mir, einen Füller oder Bleistift und einen ältlichen Computer. Ich muß die Kopfhörer aufhaben; das Zimmer, in dem ich arbeite, lese oder Musik höre, befindet sich im Bauch eines riesigen Wohnblocks. Die Mitbewohner produzieren eine Menge Lärm. Über mir läuft die Hausfrau in Stöckelschuhen durch die Wohnung. Der Fußboden der Küche ist gefliest. Ab und zu benutzt einer meiner vielen Nachbarn die Bohrmaschine. Die modernen Bohrmaschinen haben die Kraft von Panzern aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs und sind ebenso laut. Die Bohrmaschine einige Etagen über mir sprengt schier meinen Schädel. Sie tötet Gedanken und Inspiration; eine im Haus explodierende Bombe.
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Ich habe die Kopfhörer auf, als Steuerung dienen mir die Tasten der Schreibmaschine, der Bleistift, der Füller oder die Tastatur des Computers, unter mir dehnt sich die Inschrift Cracows Historic Town Centre, einen Teil des klösterlichen Obstgartens der Bernhardiner verdeckend, und sie erstreckt sich - das war mir vorher nicht aufgefallen - bis zum südlichen Fragment der Burgmauern von Wawel. Ich sitze wohl doch in einem Helikopter, denn ich verharre über dem grünen Gobelin der Stadt auf der Stelle; das Foto muß im Hochsommer aufgenommen worden sein, die Stadt ist grünbräunlich, lichtgesättigt, glückselig. Aber nein, manche Baumwipfel werden schon leicht gelblich; ich sehe sie von oben. Also vielleicht Anfang September, die erste Herbststunde; aber nur ich erblicke die vergilbenden Baumwipfel, von unten sieht man sie noch nicht; für den, der von unten heraufschaut, ist noch Hochsommer, aber für mich hier oben zeigen sich schon die ersten zarten Streifen des Herbstes.
Es ist später Nachmittag, fast Abend, die Sonne neigt sich zum Westen hin, die Schatten sind lang und friedlich, vom heiteren Tag gesättigt. Sie legen sich genau auf die Ost-West-Linie, parallel zu den länglichen Körpern der Kirchen, die bekanntlich auf dieser Achse gebaut wurden, zwischen Sonnenaufgang und -untergang, zwischen den zwei wichtigsten Ereignissen des Tages.
Die Sicht aus der Vogelperspektive enthüllt die kleinen Geheimnisse der Stadt, die man als Passant nicht wahrnimmt; der Blick von oben hat etwas von einer Beichte, die Stadt gesteht ihre kleinen Sünden - aber nicht die schweren wirkliche ... Leseprobe