Beschreibung
Mit der Moderne entstand eine Pornographie, die allein der Erregung diente. Erstmals äußerte sich dieser Wille zur Lust in den Schriften des Marquis de Sade. Seitdem ist die Pornographie in viele Bereiche des Alltags vorgedrungen und zu einem prägenden Element westlicher Kultur geworden. Svenja Flaßpöhler zeichnet diese Entwicklung nach und erläutert schließlich, warum insbesondere der Film geeignet ist, unser Bedürfnis nach selbstgenügsamer Erregung zu stillen. Die bewegten Bilder zeigen uns etwas vermeintlich 'Reales' - etwas, das die Schrift nur als Abwesendes zu bezeichnen vermag - und erregen uns fast wie auf Knopfdruck. Damit werden wir zu Lustmaschinen, die sich selbst genügen und den Anderen nicht mehr brauchen, um Befriedigung zu erlangen.
Leseprobe
Die Pornographie, so scheint es, ist salonfähig geworden. Auf überlebensgroßen Plakaten klemmt Ex-Pornostar Gina Wild ein Dosengetränk "in klassischer Titfuck-Pose" zwischen ihre Silikonbrüste und lächelt in die Kamera; die lolitahafte Popsängerin Britney Spears verwandelt sich in ihrem Videoclip Toxic (2004) in eine professionelle tease, die dickliche, bebrillte Männer gekonnt auf der Flugzeugtoilette verführt; die Kunstkritikerin Catherine Millet entwirft sich in ihrer Autobiographie Das sexuelle Leben der Catherine M. als eine durch und durch triebgesteuerte Kunstszenen-Nymphomanin; die Schriftstellerin Nelly Arcan erzählt von ihrer Vergangenheit als Hure, und die ehemalige Pornodarstellerin Sibel Kekilli verlässt die Berlinale 2004 mit einem Goldenen Bären. Das Pornographische, schreibt Jörg Metelmann, "ist [.] vollends aus den tabuisierten Räumen des tolerierten Verwerflichen an die Oberflächen der breiten Öffentlichkeit getreten; es pornoisiert den Mainstream, die Popkultur. Pornowerbung schmückt Fassaden und Museen, Popstars wollen mit eindeutig zweideutigen Clips den Pop retten, explicit contents füllen die CD-Regale und Buchläden". Doch derart pornographisiert wie Metelmann meint, ist die breite Öffentlichkeit dann in letzter Konsequenz doch nicht. Zwar gibt es auf Plakatwänden durchaus Frauen zu sehen, die verheißungsvoll lächelnd und eine Schürze mit der Aufschrift "Kleine Schweinerei gefällig?" tragend ihren Mund zu einem saftigen Fleischspieß führen. Völlig undenkbar ist es hingegen, in einer Werbung tatsächlich ein steifes Glied, geschweige denn eine Fellatio zu zeigen. Und auch im Mainstreampop gibt es nach wie vor Grenzen - Grenzen, die etwa durch den Skandal um die herausgerutschte Brust Janet Jacksons bei einem Superbowl-Auftritt deutlich markiert werden. Überschreitungen des guten Tons sind tatsächlich nach wie vor nur in der alternativen Musikszene zu beobachten, so etwa wenn die kanadische Elektropunkerin Peaches ihr Schamhaar wild aus den Hot-Pants wuchern lässt, sich während ihrer Auftritte ein Mikrophon zwischen die Beine schiebt und auf ihrer Internetseite eine Scrotch Gallery einrichtet. Doch selbst Peaches ist immer noch weit davon entfernt, tatsächlich ihre Vulva in die Kamera zu halten: Die Genitalien bleiben in den Medien der breiten Öffentlichkeit bedeckt - und dies zunächst einmal einfach deshalb, weil eine Zurschaustellung pornographischen Materials nach §184 des Strafgesetzbuches verboten ist. Doch vielleicht lässt sich für die öffentliche Zurückhaltung noch ein weiterer Grund anführen. Denn mit Winfried Menninghaus könnte man vermuten, dass es selbst einer provokanten Elektropunkerin wie Peaches letztendlich um einen ästhetischen und nicht um einen sexuellen Genuss geht. So behauptet Menninghaus unter Rückgriff auf Sigmund Freud, dass wir Genitalien nicht schön, sondern sexuell erregend fänden und sich genau auf diese Differenz die Genese des Ästhetischen zurückführen lasse: "Wären auch die menschlichen Genitalien selber schön, wären sexuelle und ästhetische Erregung koextensiv. Nur in dem Maß, in dem es zwischen beiden eine Diskrepanz gibt, eröffnet sich die Möglichkeit eines funktionalen Eigenwerts des Ästhetischen und einer Sublimierung durch Schönheit [.]."
Inhalt
Dank7 Einleitung8 1. Zum Unterschied von Pornographie und scientia sexualis24 1.1 Scientia sexualis: Wissen als Primärzweck30 1.1.1 Die Wende am Beginn der Moderne31 1.1.2 Die Geister wieder loswerden36 1.1.3 Regulative Himmelskörper47 1.2 Pornographie: Lust als Primärzweck56 1.2.1 "Frevlerische Diskurse"57 1.2.2 Erregung statt Einpflanzung61 1.2.3 Körperutopien80 2. Lustmaschinen: Vom Materialismus zur Pornographie82 2.1 Sades "Pornosophie"82 2.2 Immanente Triebkräfte87 2.2.1 Tat ohne Täter87 2.2.2 Die Natur ist asozial91 2.2.3 Die Einbildungskraft als erregender Zerrspiegel98 2.3 Transzendenz durch die Hintertür105 2.3.1 Wollust als Pflicht106 2.3.2 Die ewiggleiche Dramaturgie der Orgie111 2.3.3 Die Überschreitung116 2.3.4 Die Zerstörungslust macht vor sich selbst halt120 2.4 Die Lustmaschine125 3. Selbstvollendende Lustmaschinen130 3.1 Hegel: Selbstvollendung durch den Anderen132 3.1.1 Erfahrung statt Kategorienbrille132 3.1.2 Die Begierde als Initialzündung136 3.1.3 Herr und Knecht140 3.2 Sade: Selbstvollendung durch reine Negation145 3.2.1 Der Libertin kämpft nicht145 3.2.2 Wohldosierte Stromstöße146 3.3 Der Tod bei Sade und Hegel158 3.3.1 Verfügung ins Allgemeine159 3.3.2 Der ''kleine Tod''163 3.4 Asymptotische Annäherung vs. kreisförmige Wiederholung167 3.4.1 Triebverdrängung bis zur Vervollkommnung167 3.4.2 Der Libertin fängt immer wieder bei (fast) Null an170 3.5 Hand an sich legen: Die Selbstvollendung der Libertins174 3.5.1 Primärer Narzissmus175 3.5.2 Der Masturbator180 4. Selbstvollendung ohne Verlangen: Der Pornofilm184 4.1 Flinker Kupferstecher: Von Sade zum Pornofilm187 4.1.1 Die Schrift verliert ihre repräsentative Kraft190 4.1.2 Der Geschlechtsakt im reinen Licht der Apparatur202 4.2 Sichtbarkeit gegen die Angst210 4.2.1 Negierte Komplizenschaft213 4.2.2 Die Angst im Griff des Masturbators222 5. Die pornographische Besessenheit246 6. Literatur252
Schlagzeile
Von de Sade zum Pornofilm