Beschreibung
Die Frage, was die Moderne sei, ist für die Soziologie von klassischer Bedeutung. Großereignisse wie der Zusammenbruch des Sozialismus oder Phänomene der Globalisierung und Transnationalisierung stellen die Gültigkeit von Modernisierungstheorien, die von einem linearen Prozess der Rationalisierung und Verwestlichung ausgingen, infrage. In diesem Band wird Moderne kulturtheoretisch betrachtet: als komplexe historische wie globale Konstellation unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Sinnsysteme und Praktiken. Mit Beiträgen u.a. von Johannes Angermüller, Ulrich Bröckling, Shmuel N. Eisenstadt, Bernhard Giesen, Karin Knorr-Cetina, Matthias König, Scott Lash, Michael Makropoulos, Shalini Randeria, Hartmut Rosa, Urs Stäheli und Peter Wagner
Autorenportrait
Thorsten Bonacker ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Marburg und dort Stellvertender Geschäftsführender Direktor am Zentrum für Konfliktforschung. Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leseprobe
Die Frage, was die "Moderne" ausmacht, was die Strukturmerkmale moderner Gesellschaftlichkeit sind, hat den soziologischen Diskurs seit Mitte des 19. Jahrhunderts angetrieben - die Mehrdeutigkeit und inhärente Ver-änderbarkeit der Moderne selber haben dazu geführt, dass die Frage nie einer dauerhaften, unstrittigen Antwort zugeführt werden konnte. Das, was sich aus der gegenwärtigen Perspektive als der "klassische" soziologische Diskurs zwischen 1860 und 1910 darstellt und Theoretiker wie Marx, Max Weber, Durkheim, Tönnies oder Simmel umfasst, ist im Wesentlichen durch eine Problemstellung gekennzeichnet, welche nach der grundlegenden Differenz zwischen der sogenannten "modernen" und der nicht-modernen, traditionalen Gesellschaft und nach den Mechanismen der Entstehung letzterer aus ersterer fragt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Theorieangebote, die auf Kapitalismus, Rationalismus oder soziale Differenzierung als Basiskonzepte setzen, bleibt die Frage, worauf diese Theorien eine Antwort zu liefern versuchen, damit konstant. Die Leitfrage nach der Moderne wiederholt sich bei den zeitgenössischen Klassikern des sozialwissenschaftlichen Diskurses der 1960er bis 1980er Jahre, prominent bei Luhmann, Foucault und Bourdieu, und sie taucht in anderer Form im Zentrum des breit gefächerten "Post"-Diskurses seit den 1980er Jahren - den Theorien der Postmoderne, des Postindustrialismus, Postfordismus, schließlich den Theorien der Hochmoderne oder der Globalisierung - wieder auf. "Moderne" ist dabei kein Gegenstand, sondern eine soziologische Beobachtungskategorie. Die äußerste Voraussetzungshaftigkeit dieses Beobachtungsschemas vermag der soziologische Diskurs selber regelmäßig unsichtbar zu machen, sie wird erst in der historischen semantischen Analyse - beispielhaft bei Reinhart Koselleck - erneut bewusst. Die Semantik der Modernität setzt vor allem ein kulturell hochspezifisches Temporalschema voraus. Dieses platziert sich gegen die Vorstellung einer grundsätzlichen Konstanz und Wiederholung der Struktur der Humanwelt in der Zeit ebenso wie gegen Modelle zyklischer Geschichte. Es differenziert vielmehr - darin ein christlich-jüdisches Zeitlichkeitsmodell säkularisierend - eindeutig zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, interpretiert die Vergangenheit im Lichte des Gegenwärtigen und Zukünftigen, als dessen Vorstufe es erscheint, und lädt diese unterschiedlichen Zeitperioden mit spezifischen historischen Bedeutungen auf. Es vermag schließlich die zeitlichen Phasen an Gesellschaftsformen zu koppeln, um damit ein Muster der temporalen Aufeinanderfolge unterschiedlicher Gesellschaftsformationen in der Geschichte zu etablieren. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Vergeschichtlichung der Gegenwart, welche die Beobachtungskategorie des Modernen betreibt, hat der soziologische Diskurs jedoch sehr verschiedenartige Narrative der Modernität entwickelt. In einer pointierten Zuspitzung kann man hier vor allem zwei grundsätzlich konträre Beschreibungsformen unterscheiden, die in Konkurrenz zueinander stehen: das Narrativ der "Modernisierungstheorien", das nach wie vor das Zentrum der soziologischen Perspektive besetzt; und ein uneinheitlicher Gegendiskurs, der im weitesten Sinne auf kulturtheoretischen Prämissen aufbaut. Die Differenz zwischen Modernisierungstheorien und Kulturtheorien der Moderne ist dabei nicht als ein historisches Narrativ zu verstehen: Tatsächlich haben in der Geschichte der Sozial- und Kulturwissenschaften beständig beide Vokabulare nebeneinander existiert (ebenso wie dies häufig bei einzelnen Autoren der Fall ist, in denen sich beide Tendenzen kreuzen), wobei in bestimmten Phasen der intellectual history die eine oder die andere der beiden Beschreibungsformen in die Offensive gegangen ist. Für den Zeitraum seit den 1980er Jahren kann eine solche Offensive der Kulturtheorien der Moderne beobachtet werden: Im Zuge einer verbreiteten Kritik an den Modernisierungstheorien lässt sich eine Fülle von Ansätzen ausmachen, die der modernisierungstheoretischen eine kulturtheoretische Perspektive entgegenzusetzen versuchen. Sie bilden die Hintergrundfolie und das Thema für die Beiträge dieses Bandes Kulturen der Moderne. Eine solche kulturtheoretische Perspektive umfasst beispielsweise eine von Michel Foucault inspirierte Archäologie/Genealogie der Moderne ebenso wie Versionen eines hermeneutisch-interpretativen, kulturvergleichenden Ansatzes, etwa in Eisenstadts multiple modernities, bestimmte Versionen einer Theorie der kulturellen Globalisierung, die eine Hybridisierung fokussieren, ebenso wie Ansätze, welche - wie bei Latour - die Differenz zwischen Kultur und Natur dekonstruieren und eine Geschichte von "Naturkulturen" favorisieren. Andererseits bedeutet dies nicht, dass modernisierungstheoretische Denkfiguren aus der gegenwärtigen Diskussion verschwunden wären. Im Gegenteil finden sich diese in anderer Form etwa in der aktuellen Theorie "reflexiver Modernisierung" und in "hybrider" Form in den Kombinationen von Postmoderne- und Kapitalismustheorie beispielsweise bei Fredric Jameson oder David Harvey. Die Konstellation zwischen der soziologischen grand récit der Modernisierungstheorien und den Kulturtheorien der Moderne stellt weiterhin ein offenes Rennen dar. Was sind Merkmale des modernisierungstheoretischen Narrativs? Und was zeichnet demgegenüber die Kulturtheorien der Moderne aus? Wenn man trotz aller realen Tendenzen einer gegenseitigen Überlagerung beider Diskurse ihre Kernelemente idealtypisch gegenüberstellen will, lassen sich mehrere Aspekte herausarbeiten. Es sind vor allem vier Merkmale, welche den modernisierungstheoretischen Beschreibungsmustern ihre spezifische Form geben: 1. Die Struktur/Kultur-Differenz. Im Rahmen des modernisierungstheore-tischen Narrativs wird explizit oder implizit eine Differenz zwischen "Kultur" und einer vorkulturellen "Struktur" markiert und der sozialen Struktur regelmäßig ein Primat gegenüber der Kultur zugeschrieben. Die bekannteste Version dieser asymmetrischen Leitunterscheidung ist die Differenz zwischen Überbau und Basis, aber sie kommt in einer Reihe verschiedener Versionen vor. Ein Großteil der soziologischen Gesellschaftstheorien rechnet den Merkmalskern moderner Sozialität auf einer solchen Strukturebene zu: Neben der Kapitalisierung kommen Industrialisierung, Technisierung, Zivilisierung und Urbanisierung, aber auch - theoretisch avancierter - Muster sozialer Differenzierung, vor allem funktionale Differenzierung als mögliche Kandidaten einer solchen Strukturdiagnose der Moderne in Frage. Dies bedeutet nicht, dass in modernisierungstheoretischen Narrativen die "Kultur", das heißt die Ebene von Sinnstrukturen und Bedeutungswelten, von Diskursen und sozialen Praktiken, irrelevant wäre. Sie erhält jedoch letztlich den Stellenwert eines Produkts sozialer Strukturen: Erst wenn das scheinbar fixe Fundament einer Struktur außerhalb der Kultur erreicht ist, gibt sich das modernisierungstheoretische Erklärungsmuster zufrieden. So wird etwa eine bestimmte Kultur des Individualismus als Produkt einer bestimmten Form sozialer Differenzierung interpretiert; oder der Kapitalismus als Ursache einer Kultur der Verdinglichung. Die sozialen Strukturen selber erscheinen dann umgekehrt nicht weiter erklärungsbedürftig oder werden als mehr oder weniger autokatalytische Prozesse verstanden.
Inhalt
Inhalt Das Problem der Moderne: Modernisierungstheorien und Kulturtheorien Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz Multiple modernities: Analyserahmen und Problemstellung Shmuel N. Eisenstadt Moderne in Zeit und Raum - Auch dies ein Versuch, die europäische Erfahrung neu zu denken Peter Wagner Kulturelle Konstruktionen und institutionelle Varianten der Moderne in der Weltgesellschaft Matthias Koenig Die Moderne und das Spiel der Subjekte: Kulturelle Differenzen und Subjektordnungen in der Kultur der Moderne Andreas Reckwitz Regime des Selbst - Ein Forschungsprogramm Ulrich Bröckling Modernisierung als soziale Beschleunigung: Kontinuierliche Steigerungsdynamik und kulturelle Diskontinuität Hartmut Rosa Entgrenzung und Beschleunigung - Einige Bemerkungen über die kulturelle Vielfalt der Moderne Bernhard Giesen Differenzierte Moderne? Zur Heterogenität funktionaler Differenzierung am Beispiel der Finanzökonomie Urs Stäheli Der Kampf der Interpretationen - Zur Konflikthaftigkeit der politischen Moderne Thorsten Bonacker Modernität und Massenkultur Michael Makropoulos Auf dem Weg zu einer Moderne verallgemeinerter Medialisierung Scott Lash Postsoziale Beziehungen: Theorie der Gesellschaft in einem postsozialen Kontext Karin Knorr Cetina Kontingenz und Mangel: Von der Gesellschaft der Moderne zum Sozialen der Postmoderne? Johannes Angermüller Autorinnen und Autoren
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Vielfalt der Moderne