Beschreibung
Zwölf Etagen Stahl umarmen das Kottbusser Tor, wo das Herz aus Beton seit Anfang der Siebziger in unruhigem Takt schlägt. Gefährlich sei der Kotti, schreibt die Presse, ein sozialer Brennpunkt, Drogenumschlagplatz. Hier, im Gebäuderiegel Neues Zentrum Kreuzberg, leben Mutlu, Baris, Aylin, Stanca, Marianne und Günther. Ihre Geschichten, eine Chronik persönlicher Schicksalsschläge, sind eng verwoben mit dem Leben des Viertels. Als Stanca eines Nachts einen schrecklichen Fund macht und Mutlus Söhne ins Drogenmilieu abzurutschen drohen, bildet sich eine Bürgerwehr. Unbemerkt bleibt dabei eine ganz andere, allumfassende Gefahr, die im Verborgenen an einem eigenen Ende schreibt. Julia Rothenburg erschafft empathische Porträts ihrer Figuren, die jede für sich um eine selbstbestimmte Existenz kämpfen. Ein Bild urbaner Vielstimmigkeit entsteht, das auf Risse hinweist, die einzelne Leben und eine ganze Gemeinschaft auseinanderbrechen lassen können.
Autorenportrait
Julia Rothenburg, 1990 in Berlin geboren, studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin. Ihr Debüt, Koslik ist krank (FVA 2017), wurde mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur und dem Stipendium für Literatur des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet, das Hörspiel dazu für den ARD Hörspielpreis 2020 nominiert. Ihr zweiter Roman hell/dunkel erschien 2019 bei der FVA. Sie lebt in Berlin.
Leseprobe
Da sitzen sie, die kleinen Gangster, und trinken Capri- Sonne. Es ist Frühling. Die Muskelshirts schlackern am Körper. Das sieht sie ja sogar von hier. Es ist viel zu kalt. Alle vier haben ihre Caps ins Gesicht gezogen. Ab und zu springt einer auf, fuchtelt vor den anderen herum. Die Stimmen hallen über den ganzen Kanal. Aylin hat sie schon von weitem gehört, da stand sie noch bei den Schwänen, die Plastiktüte fest umklammert, damit die Schwäne bloß nicht denken, dass da was für sie drin sein könnte. Aylin beschleunigt ihren Schritt, viel zu lange hat sie hier rumgestanden. Seit ihrer Kindheit schon kriegt sie den nicht los, diesen sinnlosen Drang, sich an Details aufzuhalten: riesige Schwanenfüße, die auf dem Boden rumwatscheln. Das Essen in der Tüte wird kalt. Laut kieksen die Stimmen, sie hört dazwischen Buraks Kinderstimme, auch aus der Entfernung, sie sticht hervor wie die komplett weiße Kleidung von diesem Marcel, der auch immer bei der Gruppe abhängt. Genauso ein Assi- Kind wie die anderen. Von außen verschwimmen die vier zu einer Einheit. Sie denkt schon seit Jahren, dass Onkel Mutlu mal härter durchgreifen sollte. Das bisschen Handyverbot. Nicht dass sie wüsste, was da jetzt noch helfen könnte. Sie weißja selbst, dass Burak eigentlich ein hoffnungsloser Fall ist. Hat andauernd geflennt, als er klein war. Man musste ihm nur sein Spielzeug wegnehmen. Hat auch geheult, wenn sie gegangen ist. Geh nicht, Aylin, geh nicht. Traumatisiert, hatte Marianne gesagt. Aber das war doch erst später. Vor dem mit Hilal hat der noch viel mehr geheult als hinterher. Hinterher: große feuchte Kinderaugen, aber oft stumm. Zumindest als sie ihm das erklärt hat, ihm und Baris, weil Onkel Mutlu es ja nicht konnte. Onkel Mutlu, der ebenfalls stumm war, danebensaß, dann hinausging, die Tür zuknallte. Da zuckten sie zusammen, die Jungs. Noch größere Kinderaugen. Und sie saß allein im Wohnzimmer mit diesen Kinderköpfen, Raspelhaare hatten die beiden damals, weich wie Fell, passte fast in die Hand hinein, so ein Kinderkopf, mit dieser kleinen Einbuchtung hinten. Schuld an dem ganzen Geheule war natürlich Marianne. Die ganzen deutschen Märchen sind ja voll von Kindern, die von ihren Eltern allein gelassen werden. Da war Ma - rianne erbarmungslos, die hat sie trotzdem vorgelesen. Einmal hat Marianne dann selbst angefangen zu heulen. Natürlich hat sie so getan, als würde sie nicht heulen, hat einfach weitergelesen, mit diesem Bruch in der Stimme, feuchter Spucke und Rotze zwischen den Wörtern. Das war nicht zu ertragen. Ich mach, hatte Aylin gesagt, dabei ist sie echt mies im Vorlesen. Sie erinnert sich genau an den Moment, wie peinlich das war, das schwere Buch auf den Knien, ein deutsches Märchenbuch, und die Wörter viel zu klein für ihre Augen, weil sie ja eigentlich eine Brille braucht. Aber musste dann halt.