Beschreibung
Südafrika in den 1920er- bis 1970er-Jahren: Es ist eine heile Welt, in der Lettie Louw aufwächst - und doch fehlt ihr ein Stück zum Glück. Zu sehr fühlt sie sich als das hässliche Entlein zwischen all ihren hübschen Freundinnen. Kein Wunder, dass es auch mit den Jungs nicht klappt. Umso eifriger kniet sie sich ins Studium der Medizin
Autorenportrait
Irma Joubert ist Historikerin und lebt in Südafrika. Sie war 35 Jahre lang Lehre- rin. Nach ihrer Pensionierung fing sie mit dem Schreiben an. Über ihre Heimat hinaus haben sich ihre Romane auch in den Niederlanden, den USA und in Deutschland zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Leseprobe
1. Kapitel Lettie und Annabel sind Freundinnen. Schon immer gewesen. Letties Vater ist der einzige Arzt im Dorf und der Vater von Annabel der einzige Notar. Und so hat Annabels Mutter schon damals, als sie noch ganz klein waren, entschieden, dass Lettie gut genug ist, um mit ihrem Töchterlein spielen zu dürfen. Lettie wohnt mit ihren Eltern in der Voortrekkerstraße. Das Wohnzimmer benutzen sie nur, wenn der Pfarrer zu Besuch kommt. Im Winter und am Sonntag sitzen sie abends gemütlich um den Tisch in der großen Küche mit dem Aga-Herd, an dem ihre Mutter fortwährend geschäftig herumhantiert. Im Sommer, wenn es im Bosveld heiß und trocken ist, sitzen sie auf der hinteren Veranda. Das Fliegengitter hält die Fliegen und Mücken draußen, es sei denn, jemand vergisst die Klapptür wieder ordentlich hinter sich zu verschließen. Es riecht immer lecker bei ihnen im Haus, denn Letties Mutter bereitet oft eine kleine Überraschung vor, wenn Lettie und ihr Vater abends nach Hause kommen. Annabel dagegen wohnt in einem großen Haus ein Stück die Straße hinauf. An der Vorderseite ist eine halbrunde Veranda mit Säulen und eine Treppe mit vier Stufen. Die schwere Eingangstür hat eine Klingel; wenn Lettie zum Spielen vorbeikommen will, muss sie klingeln. Dann öffnet ihr eine schwarze Frau in einer ordentlichen Uniform die Tür. Drinnen liegen dicke Teppiche auf den glänzenden Böden. Annabel und sie dürfen nur auf der Ve- randa spielen, sonst bringen sie im Haus alles durcheinander. Annabels Mutter ist eine große, dünne Frau. Sie hat tiefschwarzes Haar und ist sehr streng. Annabels Vater ist groß, er hat nur noch sehr wenige Haare und eine Brille und er ist immer ein bisschen rot im Gesicht. Zu Hause ist er eigentlich nie, weil er sehr hart arbeitet. Aber im Gottesdienst sieht Lettie ihn manchmal. Es ist nicht wirklich schön, wenn sie bei Annabel spielen. Deshalb gehen sie meistens zu Lettie nach Hause. In der ersten Klasse der Mittelschule stoßen auch alle Kinder aus den Kleinstschulen in der Umgebung zu ihnen. Sie wohnen alle im Internat. So lernt Lettie auch Klara und Christine kennen. Annabel und Christine kennen sich schon, denn ihre Eltern sind miteinander befreundet. Christines Vater ist der Vorsitzende der örtlichen Wahlvereinigung und ein Mitglied im Provinzialrat, deshalb ist er ganz schön wichtig. Christine ist nicht wichtig, sie ist einfach nur eine Freundin. Lettie interessiert sich von Anfang an für Klara und Christine. Sie wäre gern Klaras beste Freundin, aber das ist ja schon Christine. Eine beste Freundin hat Lettie nicht - Annabel wird jedenfalls mit Sicherheit nicht wollen, dass sie ihre beste Freundin ist. Lettie ist schon immer die allerbeste und allerschönste Tochter ihres Vaters und der allerliebste Schatz ihrer Mutter. Ihre Eltern sind beide klein und freundlich und ganz schön mollig. Lettie sieht beiden ähnlich und ist ein glückliches Kind. Doch mit vierzehn Jahren bemerkt sie zum ersten Mal, wie gut ihre Freundinnen aus der Schule aussehen. Klara hat goldbraunes, leicht gelocktes Haar, das sich ständig aus ihren Zöpfen löst und in Strähnen herunterhängt. Dann streicht sie es sich hinter die Ohren. Sie hat rosige Wangen und wunderschöne grüne Augen. Sie ist ziemlich gut in Sport und kann wirklich schön singen. Mollig ist sie überhaupt nicht. Christine ist eher klein und hat blonde Locken und blaue Augen. Sie sieht immer ein bisschen ängstlich aus - oder vielleicht ist sie auch nur unsicher - und ihr fällt es etwas schwer, in der Schule mitzukommen. Klara hilft ihr oft. Christine ist einfach ein Porzellanpüppchen, so hübsch ist sie. Annabel ist groß und schlank und hat wohlgeformte Beine und eine sonnengebräunte Haut. In Sport schneidet sie sehr gut ab und sie ist auch sehr intelligent. Ihr langes, dunkles Haar trägt sie meistens zu einem Zopf geflochten, aber wenn es irgend geht, trägt sie es offen und dann fällt es ihr glänzend und sanft wie Seide über die Schultern. Sie hat dunkle Augen, genau wie ein Filmstar, perlweiße Zähne und volle Lippen. Annabel ist eine Schönheit, wird der jungen Lettie klar. Und alle Jungs sind ganz verrückt nach ihr. Zusammen mit Klara und Christine kommt auch noch ein Junge zu ihnen in die Klasse, er stammt aus derselben Kleinstschule und heißt Gerbrand Pieterse. Er bekommt ein Stipendium der Armenfürsorge, weil die Regierung für arme Kinder das Schulgeld zahlt. Er ist groß und stark, hat rote Haare und Sommersprossen. Er ist ein echter Wildfang und Lettie ist ein bisschen auf der Hut vor ihm. Klaras Bruder ist nur ein Jahr älter als sie. De Wet heißt er und alle Mädchen in der Schule sind in ihn verliebt, sogar die Mädchen in der Abschlussklasse, obwohl er eine ganze Ecke jünger ist als sie. De Wet kann alles: Er ist im Sport der Beste, er spielt in der ersten Rugby-Mannschaft, obwohl er erst fünfzehn ist, er ist jedes Jahr der Beste in seiner Klasse und er singt in der Operette die Hauptrolle. Dabei ist er auch noch einfach nett zu jedem, auch zu Lettie. Er kann sich sogar an ihren Namen erinnern. 'Hallo, Lettie', sagt er eines Morgens während des Gemeindebasars. 'Ich wusste gar nicht, dass so ein schlauer Fuchs wie du sogar Pfannkuchen backen kann.' 'Ich verkaufe sie auch nur', erwidert sie verlegen. Weil er so groß ist, muss sie zu ihm aufschauen. In seinen grünen Augen blitzt der Schalk in kleinen Lichtern auf. 'Na, dann haben sie jedenfalls die richtige Person gefunden, um das Geld im Auge zu behalten. Was für ein wunderbarer Tag ist das doch, findest du nicht auch?', plaudert er, während sein langer, schlaksiger Körper entspannt gegen den Tisch lehnt. 'Was meinst du, liegen da hinten nicht vielleicht noch ein oder zwei missglückte Pfannkuchen, für die keiner einen roten Heller zahlen würde?' Sie findet drei und streut eine ganze Menge Extrazucker und -zimt darauf. 'Danke, wow, du bist wirklich klasse', bedankt er sich fröhlich. Abends steht Lettie eine ganze Weile vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern. 'Das ist einfach nur Babyspeck, den wirst du irgendwann los', tröstet sie ihr Vater immer, aber jetzt ist sie schon fast fünfzehn. Sie tritt etwas näher an den Spiegel heran und betrachtet ihr Gesicht mit einem prüfenden Blick. Ihre Haut sieht ganz anders aus als die von Klara und Annabel. 'Das kommt nur davon, dass deine Haut ein bisschen fettig ist, aber das bedeutet auch, dass du später nicht so schnell Falten bekommst', erklärt ihre Mutter immer tröstend. Aber später ist im Augenblick nicht wichtig. Und sie trägt eine Brille. Die hat sie schon, seit sie acht ist. Annabel hat damals laut losgelacht. 'Jetzt siehst du wirklich wie eine Eule aus mit deinem runden Gesicht und den runden Gläsern. So sehen deine Augen noch größer aus.' Die anderen Kinder haben mitgelacht. Alle haben immer nur gemacht, was Annabel gesagt hat. Lettie hat an diesem Tag beschlossen, nie mehr die Freundin von Annabel werden zu wollen. Am selben Abend ist allerdings Annabels Vater vorbeigekommen und hat Annabel und ihren Bruder Reinier vorbeigebracht, damit sie bei Lettie und ihren Eltern übernachten konnten. Und Letties Vater ist zusammen mit Annabels Vater weggefahren. Erst viel später hat Lettie von dem großen Problem bei Annabel zu Hause erfahren, dem Problem, weswegen Annabel und ihr Bruder von nun an immer wieder bei Lettie zu Hause schlafen. Den Trinkteufel, nennt Letties Mutter es. Vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern beschließt Lettie, nie mehr Kuchen oder Pudding oder irgendetwas anderes Leckeres zu essen. Aber ihrem Vorsatz bleibt sie nicht lange treu. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch, die anfangen herumzuflattern, wenn De Wet in der Nähe ist, die bleiben. Und sie machen ihr ein herrliches, traumartiges Gefühl. Dann kommt das Voortrekkerlager. Letties Vater setzt sie mit ihrem Koffer, der Frühstücksdose und der zusammengerollten Decke am Schultor ab. 'Hierher, Lettie!', ruft Klara, die gemeinsam mit Christine neben dem Lastwagen steht und winkt. De Wet und sein Freund B...