Beschreibung
Paris, Wien, Berlin: Diese drei Städte stehen gewöhnlich für die Geburt der Moderne in Europa. Doch es fehlt eine vierte Stadt: St. Petersburg. Auch dort war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts alles in Bewegung: Utopisten entwarfen ein neues Russland, Künstler suchten nach einem neuen Ausdruck für die Zeit und Bankiers und Industrielle verknüpften Sankt Petersburg mit der europäischen Ökonomie. Doch Krieg und Revolution setzten dem Aufbruch ein jähes Ende. Karl Schlögels Darstellung dieser Epoche, schon jetzt ein Klassiker der Kulturgeschichte, erscheint nun in einer aktualisierten Neuauflage.
Autorenportrait
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2016 erhielt er für Terror und Traum (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs. Er lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen zuletzt: Der Duft der Imperien. "Chanel No 5" und "Rotes Moskau" (2020) und Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (NA 2022).
Leseprobe
Hommage a Sankt Petersburg Vorwort zur Neuausgabe
Sankt Petersburg feiert im Jahre 2003 den 300. Jahrestag seiner Gründung nicht nur mit Festen und Feiern, sondern auf seine, ihm angemessene Weise: mit einem großen Comeback, mit seinem Wiedereintritt in den Kreis der großen Städte der Welt, aus dem die Stadt an der Newa für lange Zeit herausgefallen war. Die Welt reibt sich die Augen und fragt sich, wie es nur hatte kommen können, daß man auch nur für einen Augenblick diese Stadt hatte aus dem Auge verlieren können. Die Wiederkehr von Städten ist mehr als nur ein event, den man arrangiert oder auch unterläßt. Dahinter stehen immer Kräfte anderer Größenordnung, "Elementarkräfte", wie sie der Dichter Alexander Blok genannt hat. Es kommt dazu, wenn die Kräfte, die sie wieder in Fahrt bringen, sich gefunden haben. Offensichtlich ist es nun soweit. Die Wiederkehr Sankt Petersburgs. Genaugenommen begann das Comeback schon früher und folgte weniger dem Rhythmus der kalendarischen Zeit der Jubiläen als vielmehr dem der historischen Zeit. Die Stadt, die in der Sprache der Einheimischen über Generationen hinweg immer Piter hieß, hatte 1991 ihren ursprünglichen, dem Apostel Petrus, dem Schutzpatron der Stadt, gewidmeten Namen zurückerhalten. Es war in den bewegenden Augusttagen des Jahres 1991, als Hunderttausende von Demonstranten über den Nevskij-Prospekt gezogen waren und sich auf dem Schloßplatz zwischen Eremitage und Generalstabsgebäude versammelt hatten, um gegen den Moskauer Putsch zu protestieren und ihre Solidarität mit der Stadtregierung zum Ausdruck zu bringen, als sich abzeichnete, daß die Stadt ihren alten Namen wiederannehmen würde. Die Stadt war zwar schon nach dem Tode Lenins im Jahre 1924 in Leningrad umbenannt worden, aber in Wahrheit war sie zu Leningrad erst in den 900 Tagen des heldenhaften Widerstands gegen die deutsche Belagerung geworden. Sie hatte sich ihren neuen Namen mit unvorstellbaren Opfern erworben. Nun aber konnte es keinen glücklicheren Moment für die Wiederzueignung des alten Namens geben als diese Manifestation bürgerschaftlicher Verantwortung. Das Jahrzehnt danach war für die zweitgrößte Stadt der ehemaligen Sowjetunion voll von dramatischen Veränderungen und Überraschungen. Die Stadt, in Sowjetzeiten eine Hochburg des militärisch-industriellen Komplexes, von der Außenwelt isoliert und immer zurückgesetzt gegenüber Moskau, tat und tut sich mit den gravierenden Veränderungen besonders schwer. Petersburg, gegründet als "Fenster nach Europa", mußte nach so vielen Jahrzehnten im Schatten des Eisernen Vorhangs überhaupt erst wieder lernen, mit der Öffnung zur Welt hin zu leben. Fast dreihundert Jahre nach der Stadtgründung mußte, so schien es, Sankt Petersburg noch einmal neu erfunden werden. Dieses Buch, das 1988 zum ersten Mal erschien, hat das Heraustreten der Stadt aus dem langen Schatten der Sowjetgeschichte vorweggenommen. Es sollte Petersburg, wie es damals im Titel hieß, "Jenseits des Großen Oktober" zeigen. Wenn auch noch niemand Mitte der 80er Jahre sich vorstellen konnte, daß das Ende der Sowjetunion fast unmittelbar bevorstand, so war doch zu spüren, daß etwas Großes im Gange war. Die sowjetische Spätzeit war eine gute Zeit für Erkenntnis. Irgendwie waren die ideologischen Schlachten geschlagen, die Leidenschaft des Pro und Contra hatte sich erschöpft, fast alles war gesagt, und man wartete nur darauf, daß etwas anderes begann. Die Eule der Minerva hatte ihren Flug im Abendlicht des realen Sozialismus längst begonnen. Etwas anderes wurde sichtbar: eine große, dramatische Zeit, in der das moderne Rußland Gestalt angenommen hatte und verschwunden war, noch bevor es sich hatte festigen können. Ein anderes Rußland war sichtbar geworden, und es kam nun darauf an, es zu entdecken, freizulegen und sich neu anzueignen. Neu sehen lernen. Zeitgenossenschaft lehr ... Leseprobe