Autorenportrait
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm »Die gefährliche Frau«, »Singvogel«, der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück« und zuletzt »Weißer Zug nach Süden«.
Leseprobe
Es gibt Anblicke, von denen ich nicht weiß, ob sie mir gut- oder wehtun, ob ich hinsehen darf oder den Blick abwenden soll, und irgendwann habe ich den Blick abgewandt und bin beschäftigt damit, mir selbst zu erklären, dass das eben Gesehene kein Zeichen war, keine Botschaft an mich, sondern einfach das Leben, an dem jeder zumindest mal vorbeikommt, falls er, wie ich, nicht mehr daran beteiligt ist. Der Bahnsteig in Singen füllt sich mit denen, die aus meinem Zug aussteigen, unter ihnen ein vielleicht vierzigjähriger Mann mit kleinem Gepäck, offenem Gesicht, Lederjacke und blonden Locken. Ich sehe, wie er seine Tasche fallen lässt, die Arme ausbreitet, strahlt und ein kleines Mädchen, vielleicht sechs, vielleicht sieben, in diese Arme springt, die Beine um seine Taille klammert, die Arme um seinen Hals und wie ein Kätzchen Kinn und Wange an seiner Schulter reibt. Als der Zug seine Fahrt nach Stuttgart fortsetzt, sind die beiden längst verschwunden, aber ich behalte ihr Bild noch bei mir bis Schwäbisch Gmünd, wo ich, am Ende meiner Reise, aus dem Taxi steige, auf das große Gebäude eines ehemaligen Klosters zugehe, immer langsamer, je näher ich dessen Tür komme, und ich wünschte, ich müsste da nicht hinein, aber das Wünschen hilft schon lange nicht mehr, die Zeiten sind vorbei. Und dann fällt mir ein, dass ich nicht muss. Ich will.