Autorenportrait
Gottfried Kößler ist Pädagogischer Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt. Michael Elm, Dr. des., ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Leseprobe
Dieses Jahrbuch wirft die Frage auf, wie mit den Zeugnissen der Überlebenden von Nationalsozialismus und Holocaust nach dem absehbaren Ende des "Zeitalters der Zeugenschaft" umzugehen ist. In der deutschen wie in der internationalen Erinnerungskultur ist dies schon seit Beginn der 1980er Jahre ein wichtiges Thema. Auch eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen hat sich der Fragestellung angenommen. Die Ansätze reichen von der strengen Archivierung bis zur völlig freien Adaption und Fiktionalisierung der Überlebendenberichte in Film und Literatur. Im vorliegenden Band sind Überlegungen aus dem Bereich Literatur-, Film- und Kulturwissenschaften, aus Judaistik, Pädagogik, den Geschichts- und Rechtswissenschaften vertreten, die in der Auseinandersetzung mit der vielschichtigen Thematik der Zeugenschaft notwendig an ihre disziplinären Grenzen stoßen. Dieses transdisziplinäre Feld wird im Hinblick auf die gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesse in der Praxis der politischen Bildung in Lernziele und Methoden umgesetzt. An der Generationenschwelle der Zeitzeugenschaft verändert die Weitergabe der Erinnerung ihre Qualität, da neue mediale Formen der Überlieferung gefunden werden müssen. Der Sammelband bietet einerseits aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen einen Rückblick auf die Geschichte der Zeugenschaft des Holocaust und untersucht andererseits die Tradition der Zeugenschaft als eine intergenerationelle Kulturtechnik. Sie kann auf eine lange Geschichte im abendländischen Denken zurückblicken und hat vielfältige Wandlungen erfahren. Bereits die Zeugnispflicht des jüdischen Monotheismus beinhaltet strikte Angaben darüber, wer als Zeuge infrage kommt - Frauen und Sklaven waren zunächst nicht zugelassen - und welche moralischen Pflichten damit verbunden sind. Nicht zufällig haben sich viele der jüdischen Überlebenden des Holocaust auf diese in der religiösen Tradition verwurzelte Zeugnispflicht bezogen, wenn sie die Motive beschrieben, aus denen sie von den Gewaltverbrechen der nationalsozialistischen Deutschen berichteten. Sie erzählten ihre Geschichte in den unterschiedlichsten Kontexten, zunächst häufig als Zeugen der Anklage vor Gericht, später in Gedenkstätten und Klassenzimmern oder vor der Kamera, aber auch im therapeutischen Setting. Selten und oft sehr spät wurden die Leidensgeschichten in der eigenen Familie kommuniziert. All diese Erzählungen berichten von Gewalterfahrungen und kodifizieren sie damit im kulturellen Gedächtnis. Durch das Ausmaß und die Intensität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik kommt den Zeugnissen der jüdischen Überlebenden eine besondere Stellung zu. Trotz einer allgemein zu beobachtenden Tendenz zur Globalisierung der Erinnerungskultur des Holocaust, die sich unter anderem im verbreiteten Gebrauch des Trauma-Begriffs zur Beschreibung der Überlebendenzeugnisse zeigt, bestehen nach wie vor große Unterschiede zwischen den nationalen Erinnerungsräumen. In diesem Band haben die Stellung und die Transformation der Zeugenschaft in ihrer israelischen, polnischen und deutschen Konzeption besonderes Gewicht. Durch den gegensätzlichen historischen Bezug, der auch den Umgang mit der Thematik in der Nachkriegsgeschichte durchzieht, ist die Frage nach der Bedeutung von Zeugenschaft in den genannten Gesellschaften besonders umstritten. Das gilt nicht nur für das kollektive Gedächtnis der Deutschen, für das die Aneignung der Zeugnisse von Überlebenden des Holocaust durch die Nachfahren der Täter und Zuschauer bezeichnend ist, sondern, wie die Beiträge zeigen, auch in je spezifischer Weise für das polnische und israelische kollektive Gedächtnis. Es stellt sich die Frage, inwiefern mit dem Konzept der Zeugenschaft eine Tradition begründet werden kann, die in der Lage ist, das schwierige historische Erbe an nachgeborene Generationen zu vermitteln. Auffällig ist, dass die Beiträge nicht einfach den wissenschaftlichen Diskurs über die Verarbeitung der Zeugnisse in ihrer jeweiligen Disziplin wiedergeben, sondern sich auf die Zeugnisse der Überlebenden selbst beziehen. Diese werden damit als Referenzpunkte der Auseinandersetzung bekräftigt, was den einzelnen Beiträgen mitunter einen essayistischen Charakter verleiht. Die eingehende Beschäftigung mit den Zeugnissen prägt den eigenen, fachspezifischen Umgang mit der Thematik der Zeugenschaft und schreibt rückwirkend - so die Hoffnung - ihre Gehalte in die wissenschaftlichen Fachgebiete ein. In der Zusammenschau der Beiträge wird die große Bedeutung der theoretischen Arbeiten aus dem Umfeld des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University in New Haven deutlich. Nicht wenige Beiträge beziehen sich anerkennend, aber auch kritisch auf dieses Archiv. Umso mehr freut es uns, dass wir mit der Übersetzung eines bereits im Jahr 2000 geführten Interviews mit Geoffrey Hartman einen Beitrag präsentieren können, der die Arbeit des Fortunoff-Archivs vorstellt und die theoretischen wie praktischen Probleme der Archivierung diskutiert. Mit seinem Begriff der "intellektuellen Zeugenschaft" setzt Hartman einen Akzent, der für zukünftige Diskussionen sicher relevant bleiben wird. Wir danken den Interviewern Ian Balfour und Rebecca Comay sowie dem Herausgeber von Alphabet City, John Knechtel, für die Freigabe zur Übersetzung, insbesondere aber Geoffrey Hartman selbst, der den deutschen Text gegengelesen und an einigen Stellen aktualisiert hat. Der religionswissenschaftliche Essay von Daniel Krochmalnik legt die religionsgeschichtlichen Grundlagen für das Verständnis des Konzeptes der Zeugenschaft. Er berichtet von der Begründung der Tradition der Zeugenschaft im Judentum. Krochmalnik führt dezidiert die biblischen und rabbinischen Quellen der Zeugenschaft an und macht darauf aufmerksam, dass die in der Thora geforderten "Sündopfer" bei Zeugnisverweigerung oder Meineid relativ gering ausfallen, vermutlich um die "Mauer des Schweigens" bei den aufgerufenen Zeugen nicht allzu hoch werden zu lassen. Anders sei die Situation bei Körperverletzung und Kapitalverbrechen. Hier seien die Zeugen von sich aus angehalten, Anzeige zu erstatten. Der Gerichtssaal werde dann zum Ort der Theodizee, weil gleichzeitig mit der Zeugenaussage ein Bekenntnis zum Gott Israels erfolge. Das zeige sich auch im höchsten Glaubensbekenntnis des Judentums, dem Schema Jisrael. In der hebräischen Fassung werden der erste und der letzte Buchstabe überdimensional groß geschrieben, zusammen bilden sie das Wort "Ed" (Zeuge). Das Bekenntnis zum Gott Israels werde dadurch mit der Zeugenschaft identisch. "Wenn ihr meine Zeugen seid, so bin ich Gott, und wenn ihr nicht meine Zeugen seid, so bin ich nicht Gott." Das Glaubensbekenntnis trage das Missionsziel in sich, für den Gott Israels in der Welt zu zeugen. So ergebe sich eine Nähe zu dem aus der griechischen Bedeutung entwickelten christlichen Gehalt des Wortes Märtyrer als Blutzeuge. Die Spuren dieser religiös begründeten Zeugnispflicht lassen sich noch im Konzept des juridischen Zeugen in säkularen Gesellschaften wiederfinden. Nach dem Holocaust könne Zeugenschaft allerdings nicht mehr so triumphalistisch ausfallen, wie es die Preisung und Bezeugung der Wunder Gottes bei der alljährlich begangenen Sederfeier vorsieht. Allein das unvorstellbare Ausmaß der Vernichtung habe den Berichten der Überlebenden eine Bedeutung verliehen, die einen Bruch mit den Traditionen bedingt. Aleida Assmann beschreibt die Vielschichtigkeit des Begriffes "Zeuge" anhand der Darstellung von vier Grundtypen der Zeugenschaft. Sie unterscheidet zwischen dem juridischen, dem religiösen, dem historischen und dem moralischen Zeugen. Der lateinische Begriff testis (Zeuge) verweise auf den juridischen Zeugen. Er beziehe sich auf die Figur des neutralen Dritten, der über Wissen zu einem Geschehen verfüge, aber nicht in dieses involviert sei. Der griechische Begriff martys, von dem sich das Wort "Märtyrer" als religiöser Zeuge herleitet, sc...
Inhalt
Michael Elm/Gottfried Kößler Einleitung Zeugenschaft des Holocaust - Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung I. Konzept und Tradition der Zeugenschaft Daniel Krochmalnik Pflicht Nr. 122 Das Zeugnisgebot (Mizwat Edut) in Geschichte und Gegenwart Aleida Assmann Vier Grundtypen von Zeugenschaft Geoffrey Hartman Die Ethik des Zeugnisses Ein Interview mit Geoffrey Hartman II. Zeugenschaft vor Gericht Thomas Henne Zeugenschaft vor Gericht Jose Brunner Trauma in Jerusalem? Zur Polyphonie der Opferstimmen im Eichmann-Prozess Dagi Knellessen Momentaufnahmen der Erinnerung Juristische Zeugenschaft im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess - Ein Interviewprojekt III. Tradierung der Zeugnisse Alexander von Plato Geschichte ohne Zeitzeugen? Einige Fragen zur "Erfahrung" im Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte Christian Schneider Trauma und Zeugenschaft Probleme des erinnernden Umgangs mit Gewaltgeschichte Gottfried Kößler Gespaltenes Lauschen Lehrkräfte und Zeitzeugen in Schulklassen IV. Zeugenschaft in Literatur und Film Karol Sauerland Holocaust-Zeugenschaft in der polnischen Literatur Jakob Hessing "Mir soll''s geschehen" Gedanken zu einem autobiografischen Roman Margrit Frölich Jenseits der Tatsachen und Erinnerungen Imre Kertesz'' Roman eines Schicksallosen als literarisches Zeugnis des Holocaust Michael Elm Gurkendose auf Piano Zeugenschaft bei Roman Pola?ski Christoph Schneider "Das ist sehr schwer zu beantworten und entschuldigen Sie, wenn mir jetzt die Tränen kommen" Medialität und Zeugenschaft Autorinnen und Autoren
Schlagzeile
Jahrbuch 2007 des Fritz Bauer Instituts