Beschreibung
ab 12 JahreHattet ihr Angst vor Hitler? Konnte man nicht wissen, welche Verbrechen die Nationalsozialisten vorbereiten? Mit welchen Gefühlen seid ihr in den Krieg gezogen? Als Torsten Körner diese Fragen stellt, ist niemand mehr da, der sie ihm beantworten kann.
Autorenportrait
Dr. Torsten Körner, geboren 1965, ist Historiker und Germanist mit dem Spezialgebiet Geschichte der Filmindustrie zur Zeit des Dritten Reiches. Er veröffentlichte unter anderem Biografien von Franz Beckenbauer, Heinz Rühmann und Götz George. Torsten Körner lebt als freier Autor in Berlin.
Leseprobe
VorwortViel gesprochen hat er nie. Einen Tag nach meinem elften Geburtstag zog mein Großvater zu uns. Er war sehr krank, sein Gesicht war grau, und manchmal zitterten seine Hände, wenn er sich eine Zigarette ansteckte. Ob er mit meinem Bruder oder meiner Schwester mehr gesprochen hat als mit mir, weiß ich nicht, ich glaube es aber nicht. Immerhin war ich der einzige in der Familie, der sich zusammen mit ihm alle Fußballspiele im Fernsehen anschaute. Da waren wir Verbündete. Er saß dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl und kaute nervös an den Fingernägeln. Er schimpfte: "Kannste vergessen. So nicht. Flaschen. Nee, nee, das wird nichts mehr!" Er glaubte eigentlich nie daran, dass unsere Mannschaft gewinnen könnte. Mich machte das wirklich wütend. "Hör auf! Sei doch mal still!", sagte ich und sah ihn böse von der Seite an. Er blickte auf den Bildschirm und schien mich gar nicht zu bemerken.An meinem sechzehnten Geburtstag ist mein Großvater gestorben. War ich traurig? Ich hatte ihn kaum gekannt. Meine Mutter sagte: "Es ist wegen dem Krieg. Der Krieg hat ihn so gemacht." Mein Großvater hatte im Zweiten Weltkrieg in Russland gekämpft, er war gefangengenommen worden und erst nach fünf Jahren Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekehrt. In der Gefangenschaft hatte er eine Krankheit bekommen, die seine Leber stark angriff. Daran war er schließlich auch gestorben. Als ich ihn einmal danach fragte, was er denn im Krieg erlebt habe, erzählte er mir von einem wilden Bären, den er und seine Kameraden damals gefangen hätten. Sonst nichts.Erst viele Jahre später habe ich begriffen, dass das Leben meines Großvaters und die Bilder vom Krieg, die ich aus dem Fernsehen kannte, zusammengehörten. Mir war das vorher nie klar gewesen, obwohl ich diese Kriegsbilder sehr häufig gesehen hatte. Man blickte aus der Perspektive eines Flugzeugpiloten auf die Städte. Bomben, die wie schwarze Fische aussahen, fielen tiefer und tiefer. Manchmal konnte man sehen, wie sie auf dem Boden einschlugen. Dann sah man zerstörte Häuser, Ruinen überall, Trümmer. Menschen flüchteten. Sie zogen Handkarren hinter sich her, Mütter trugen winzige Kinder auf den Armen, alte Menschen schlurften ganz langsam an der Kamera vorbei oder saßen mit leeren Gesichtern auf Wagen, die von Pferden gezogen wurden. Die Flüchtlinge fürchteten sich vor den feindlichen Soldaten. Waren es deutsche oder russische Soldaten, die im Anmarsch waren? War mein Großvater ein Soldat, vor dem andere Menschen flüchten mussten? Hatte er andere Menschen getötet?Es waren aber nicht nur die Bilder von Soldaten, flüchtenden Menschen und zerstörten Städten, die mir in Erinnerung blieben. Zu den Bildern kamen Wörter. Die Sprecher im Fernsehen sagten "Verbrechen", "Gaskammer" oder "Auschwitz". Dazu sah ich Bilder, die aus einer ganz anderen Welt zu kommen schienen, die mit meiner Welt wahrscheinlich nichts zu tun hatte. Oder doch? Ein Schaufelbagger schob menschliche Körper zusammen, als ob sie nur Müll seien. In einer Grube lagen Menschen, wild übereinander geworfen, Arme, Beine, Köpfe, alles unnatürlich verdreht.Der Sprecher sagte, diese Menschen seien Juden gewesen und deshalb habe Hitler sie ermorden lassen. Plötzlich sah man Menschen, die Hitler zujubelten, sie riefen "Heil Hitler" und hoben den rechten Arm mit ausgestreckter Hand. Es waren Tausende, Zehntausende, die mit kleinen Fähnchen winkten, die sich nach vorne drängelten, um die glänzende Limousine des Führers besser sehen zu können. Hitler stand aufrecht in dem großen offenen Wagen, hielt sich vorne an der Scheibe fest und grüßte mit erhobenem Arm. Was hatten diese fröhlichen und begeisterten Menschen mit den Leichen zu tun, die übereinander geworfen in den Gruben oder auf Haufen lagen? Hatten auch sie die Juden gehasst?Unser Geschichtslehrer hatte noch als Siebzehnjähriger im Zweiten Weltkrieg kämpfen müssen. An der rechten Hand fehlten ihm zwei Finger, die ihm von einem Bombensplitter abgerissen worden waren. In seinem Unterricht erfuhr ich etwas über das "Dritte Reich". Dass es von 1933 bis 1945 gedauert habe. Am 30. Januar 1933 sei Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, am 30. April 1945 habe er sich in seinem unterirdischen Bunker in Berlin das Leben genommen. Was war in diesen zwölf Jahren geschehen? Die Deutschen und ihr Führer hatten über ganz Europa Krieg und Terror gebracht. Hitler begann den Zweiten Weltkrieg, in dem mindestens 55 Millionen Menschen getötet wurden, das entspricht zwei Dritteln der Bevölkerung des heutigen Deutschlands. Mehr als sechs Millionen Menschen wurden von den Deutschen umgebracht, nur weil sie Juden waren. Ich lernte, dass die Nationalsozialisten diesen millionenfachen Mord "die Endlösung" nannten. Was hatten ihnen die Juden getan?Und wer genau waren eigentlich die Nationalsozialisten? Dass nicht alle Deutschen Nationalsozialisten gewesen sein konnten, lag für mich auf der Hand: Immerhin hatte es Deutsche gegeben, die gegen Hitler gekämpft und dafür mit ihrem Leben bezahlten hatten. Doch wer waren die vielen Menschen, die ihm zugejubelt hatten? Und wie viele von ihnen hatten mitgeholfen, die Juden zu ermorden? Ganz allein oder mit wenigen Helfern konnte Hitler solche Verbrechen doch gar nicht verübt haben. Und wie viele hatten von diesem Mord gewusst? Trug mein Großvater Verantwortung? Oder mein Vater, der mit zehn Jahren in die HitlerJugend eintreten musste?Als ich mir diese Fragen stellte, merkte ich plötzlich, dass die Geschichte des Dritten Reichs nicht bloß in den Schulbüchern stand oder über die Bildschirme flimmerte. Sie war nicht vergangen. Diese Geschichte gehörte zu meiner Familie, und die Geschichte meiner Familie war wiederum ein Teil dieser großen Geschichte. Je mehr ich mit meinen Eltern über das Dritte Reich sprach, desto klarer wurde mir dieser Zusammenhang. Selbst meine eigene Lebensgeschichte konnte ich jetzt mit der Geschichte des Dritten Reichs in Verbindung setzen.Heute würde ich meinen Großvater vielleicht besser verstehen. Und ich hätte ganz sicher viele Fragen an ihn. Kannst du dich noch an die Weimarer Republik erinnern? Hast du diese erste deutsche Demokratie abgelehnt wie viele andere Deutsche auch? Hat deine Familie für Hitler gestimmt, oder hattet ihr Angst vor ihm? Konnte man nicht wissen, welche Verbrechen die Nationalsozialisten vorbereiten? Mit welchen Gefühlen bist du in den Krieg gezogen? Habt ihr nicht gewusst, dass man eure jüdischen Nachbarn oder Bekannten umbringt? Dass die Nationalsozialisten Schritt für Schritt einen noch nie da gewesenen Massenmord organisierten und durchführten? Was hätte er mir geantwortet? Hätte er mir überhaupt geantwortet?Mich beschäftigen und beunruhigen diese Fragen noch immer. Ich lebe in Berlin, der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Es ist noch gar nicht lange her, da wurde in dieser Stadt ein mörderischer Krieg geplant und die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen. Sechzig Jahre später fahren blitzende Touristenbusse durch das Brandenburger Tor, überall stehen Kräne, Baugruben werden ausgehoben, Häuser hochgezogen, neue Bahnhöfe und Stadtviertel entstehen. Auf dem Potsdamer Platz, der im Krieg völlig zerstört worden war und viele Jahre bloß eine wüste Fläche voller Gras und Unkraut gewesen ist, stehen heute wieder Kinos, Hotels, Geschäfte, Restaurants und Theater. Doch Asphalt, Beton, Stahl und Glas schließen nur Baulücken. Die Fragen bleiben.Es wurde lange darüber gestritten, mit welchem Denkmal man in Berlins Mitte an die ermordeten Juden Europas erinnern will. Viele Deutsche wollen nicht akzeptieren, dass das Dritte Reich nicht aufhört, ein Teil unserer Geschichte zu sein. Sie wollen lieber einen Schlussstrich unter dieses Thema ziehen. Ihnen sind Denkmäler für die Opfer des Dritten Reichs lästig. Doch ein Blick in die Zeitungen zeigt, dass es in Deutschland auch heute noch Hass gegen Juden und Ausländer gibt. Jüdische Schulen und Synagogen müssen gegen Anschläge durch die Polizei geschützt werden, Menschen werden zu Tode geprügelt, weil sie fremdländisch aussehen, Unterkünfte für Asylbewerber werden in Brand gesteckt. Wie kann das mitten unter uns geschehen? Die Fragen bleiben.
Inhalt
InhaltVorwortDie VorgeschichteHitler auf dem Weg nach obenWer hat die Weimarer Republik zerstört?Machtübergabe und MachtergreifungDer HitlerstaatJugend im Dritten ReichAuch das war Alltag im Dritten ReichVom Rassenwahn zum HolocaustHitlers KriegLässt sich die Vergangenheit bewältigen?NachwortZeittafelGlossarBücher zum Weiterlesen
Schlagzeile
» Klar und eindringlich« Welt am Sonntag
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